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Reviews

Bettye LaVette | Blind Boys of Alabama 9.7.2011

Auch der dritte Abend im Arkadenhof des Rathauses stand im Zeichen des vermehrten Energieaufkommens: Soul mit Bettye LaVette und Gospel mit den Blind Boys of Alabama!

Wer je in zu den Klängen einer Militärkapelle marschiert ist, weiß aus eigener Erfahrung, dass Musik eine Form der Energie ist. Marschkapellen organisieren Energien anders als ein Jazz-Orchester. Um es noch komplizierte zu machen: auf diesem Jazz Fest Wien organisierte zudem jedes musikalische Großereignis ihre art der Energien.

Nehmen wir nur einmal die letzten drei Abende im Arkadenhof des Rathauses. Dreimal schien die Begeisterung keine Grenzen zu kennen, Trombone Shorty blies am 7.Juli die alle Anwesenden in kollektive Raserei. Begeisterung ohne Ende, die schiere Kraft des Funk-Gebläses und die offenen Strukturen des Secondline-Rhythmen aus New Orleans übertrugen sich nahezu nahtlos auf das Publikum. Wildfremde Menschen lagen sich in den Armen, selbst nach dem Konzert bildeten sich noch Trauben von Menschen, die vor dem Rathaus miteinander feierten. Sagen wir es so: Trombone Shortys Musik entfesselte Leidenschaften, um miteinander ins Gespräch zu kommen.

Am nächsten Abend traten Seun Kuti & Egypt 80 auf. Wieder gab es Gebläse aus voller Kraft, zudem eine tolle Show einer der derzeit besten afrikanischen Gruppen. Der Unterschied zu Shortys Musik ergab sich aus dem sich wiederholenden, hypnotisch wirkenden Figuren, die von den Perkussionisten und dem Gitarristen angeschlagen wurden. Wieder gab es rasende Begeisterung, diesmal für die Macht des Afro-Beat, der mit seinem hypnotisch-trance-artigen Moment allerdings seine Kraft eher nicht nach außen richtet, sondern auf das Innere zielt. Nach dem Konzert sollte man sich innerlich gestärkt fühlen, die Kraftwellen der sich wiederholenden Rhythmen noch eine Zeitlang im eigenen  Körper spüren.

Trombone Shortys Energie-Entfesselung und Seun Kutis Energiekonzentration mögen zwei Seiten einer Medaille sein. Diese Feststellung bringt uns geradewegs zum Ereignis des gestrigen Abends: in einem Doppelkonzert traten zu erst die Soul-Diva Bettye LaVette und nachher die Blind Boys of Alabama auf. Was war anders, was ähnelte sich?

Bettye LaVette war, so erzählte sie hinter Bühne, durch eine Lebensmittelvergiftung körperlich angeschlagen, aber sie gab ihr Bestes, und wetten, dass niemand im Publikum mehr von ihr erwartet als diesen perfekten Auftritt? Sie sang sich mit aller Inbrunst durch das Repertoire ihrer letzen Alben, beehrte Titel von C&W-Legende George Jones und von Beatle George Harrison, hatte ihre eigenen Soul-Klassiker parat.

Ihr Soul ist der einer schwarzen Frau, die gegen ihr Leiden mit der schmerzverzerrten  Hoffnung auf ein besseres Leben aufbegehrt. Obwohl stimmlich in der Nähe von Tina Turner, besitzt sie nicht deren weltumspannenden Gestus, sie teilt nicht die Freude am Überleben mit. Ihr Soul ist ein anderer: sie holt den Schmerz tief in sich hinein und begräbt unseren gleich mit in ihr. Die Begeisterung für ihre Kunst kommt aus vollen Herzen, aber möchte man nach dem Konzert dieses Energiebündel in den Arm nehmen und trösten, gar selbst von ihr getröstet werden? Oder herrscht nicht vielmehr wesentlich Respekt vor ihrer seelenheilenden Leistung vor? Das wäre ja eigentlich auch schon ziemlich viel, oder?

Die nach ihr auftretenden Blind Boys of Alabama wiederum sind, das müsste jeder wissen, die wohl älteste Boy-Group der Welt, eine afroamerikanische Gospelgruppe, die 1939 gegründet, in Jimmy Lee Carter das letzte überlebende Gründungsmitglied in ihren Reihen hat. Der war schon in der Garderobe kaum noch zu halten, so dringend wollte er auf die Bühne.
Dort schließlich hingeführt, war seine Ansage deutlich: „We are the Blind Boys of Alabama. Wir singen nicht für ein konservatives Publikum. Wir singen nur für ein Publikum, das laut ist und mitmacht.“

Schon ging es los, mit „People Get Ready“ und Normans Greenbaums Rockhit „Spirit In The Sky“. Der Gospeltrain nahm Fahrt auf, und am Ende war das von einer mitreißenden Band begleitete blinde Gesangstrio nicht mehr auf den Sitzen zu halten. Ausgerechnet der Gospel-Senior Carter riss sich los und mischte sich unter das Publikum, immer noch singend. Wer je in einer afroamerikanischen Südstaaten Kirche einen sonntäglichen Gottesdienst miterlebt hat, weiß, dass die Erreichung der Ekstase das oberste göttliche Gebot ist. Dafür brauchte es die einpeitschenden Gospelsänger, und die Blind Boys gehören in diese Tradition, und sie entlockten sogar dem Wiener Publikum begeisterte Schreie, lockten sogar wilde Tänzer hervor.

In diesem Moment beschränkte sich die Band, wie die von Kuti, auf die Wiederholung simpler Grundmotive, wieder einmal vom Erfolg gekrönt. Niemanden hielt es noch auf den Sitzen, die Schreie wurden lauter, die Begeisterung wuchs. Anders als bei Kuti wurden die trance-artigen Effekte aber immer wieder zurückgefahren oder an eine Melodie gebunden. Schließlich sangen sie das Repertorie aus ihren letzten CDs und feierten keinen richtigen Gottesdienst in den Südstaaten. Die Entfesselung der Energien, immer wieder zurückgenommen, um gleich danach wieder hochgefahren zu werden, geriet auch so zu ihrem speziellen Ziel. Kurz vor der Ekstase wurde wieder Distanz geschaffen. Näher dürfte man hierzulande einem Erweckungsgottesdienst nicht kommen.

Am Ende ist der Jubel groß, und wetten, dass nicht das Gefühl der rauschhaften Entfesselung und auch nicht das einer Konzentration auf das innere Ich übrig blieb, sondern eher das Gefühl, an einem tollen Gemeinschaftserlebnis teilgenommen zu haben?

Es sind große Künstler, die so die Kunst des Energieaustauschs beherrschen. Auf die Frage, ob ihnen ihre Blindheit bei der Ausübung ihrer Kunst im Wege stehe, antwortete mir Jimmy Lee Carter bei einem Telefongespräch: „Blind zu sein, heißt nicht, nicht sehen zu können. Ihr, die ihr meint, sehen zu können, beurteilt Menschen nach Hautfarben. Wir sehen die Menschen. Das müsst ihr noch üben!“

„Genauso sehe ich es auch!“, ruft Ben-Tzi Droan, der dem gesamten Konzert mit seinem gesundeten Dritten Auge aus meinem Stadtpalast beiwohnte. Seiner Ernennung als Geheimrat der Inneren Exilregierung Lampukistans unter Vorsitz von König Louis I., dem großen Freund von Red Beans and Rice, steht nun nichts mehr im Wege. Für Sonntag, den 17. Juli plant er seine Abreise.
„Übrigens“, ruft er hinter einer Palme hervor, „Chucho, der Weltklasse-Pianist, hat eine Nachricht geschickt. Er möchte gerne Taufpate bei unserem Klavier sein. Als er hörte, dass es meiner Stirn entsprungen ist, wurde er ganz neidisch. So etwas sei ihm noch nie passiert!“

„Man muss halt immer an das Gute im Menschen glauben. Das Gute kann auch ein Klavier sein, das hinter einer klugen Stirn verborgen ist! Man muss es nur zu heraus zu locken verstehen, nicht wahr, mein Kleines?“
Mit diesen Worten beuge ich mich zu unserem noch sehr kleinen Klavier herunter. Und was antwortet es mir?
„Plink, plink!“
„Was meinst du, sollen wir dich morgen mitnehmen zum Freikonzert von Dwiki Dharmawan und seinem World Peace Ensemble?“
„Plink, plink!“
So süß. Es kann mir einfach keinen Wunsch abschlagen.
(Harald Justin)