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Reviews

Charles Bradley 12.7.2011

It’s Soultime, Baby!

Vollkommen unerwartet wurde es gestern, am 12. Juli ziemlich heiß in Wien. Meteorologen machten ungebührlich starke Sonneneinstrahlung dafür verantwortlich, Soulfans eher Charles Bradley.

Manchmal sind es ja die in der so genannten „stillen Post“ herumposaunten „Geheimtipps“, die sich als Publikumsmagneten herausstellen. So geschah es gestrigen Dienstag vor dem Wiener Rathaus. Schon vor Beginn des vom Jazz Fest Wien ermöglichten Freikonzertes war der Platz gut gefüllt. Dort, wo oft genug eine große Lücke zwischen Bühne und der ersten Sitzreihe klafft, die mitunter verhindert, dass der berühmte Funke überspringt, hatten sich einige hundert Menschen versammelt. Denn es galt Charles Bradley zu feiern, den afroamerikanischen Soulsänger, dem mit 64 Jahren ein sensationell gutes CD-Debut mit einem Vintage-Soul-Album gelang.

Mit Band war er gekommen, gestern hatten sie noch, erzählt der Trompeter, „irgendwo“ zusammen den Opener für Macy Gray und Seal gemacht, heute waren sie in Wien. Und heizten dem Publikum ein. Gefühlte drei Grad wärmer wurden es tatsächlich, als Bradley nach dem obligatorischen Vorspiel der Band die Bühne betrat. Vier, fünf Moves und einen Old-School-Trick mit dem Mikrofonständer später, der wie durch Zauberkraft nach hinten und wieder nach vorne fliegt und damit den Sänger in die Knie zwingt, hat er dem Publikum begeisterte Rufe und Klatschen abgerungen. Und dazu wird der Soul auf den Punkt genau gesungen, mit heiserer Stimme und einigen, noch etwas ungelenk anmutenden Tanzschritten. Große Begeisterung bei den Songs, die von der Hoffnung handeln, das Schlechte auf dieser Welt noch zu Lebzeiten in etwas Gutes verwandeln zu können. Eine begeisterte Frau sagt: „Das geht direkt hier ein und dort raus“ und deutet auf gewisse Körperteile. Wer jetzt nicht an Kopf und Füße gedacht hat, hat den Soul möglicherweise noch nicht ganz verstanden.

Die beste Botschaft, die Bradley vermittelt, dürfte allerdings die sein: Sänger von seiner Güte gibt es im so genannten „Chitlin Circuit“, dem von afroamerikanischen Clubs beherrschten Spielorten in den Südstaaten, noch jede Menge. In dieser Hinsicht werden dem Jazz Fest Wien die Gäste nicht ausgehen.

Und da Bradley mit seinen 64 Jahren noch am Anfang seiner Karriere steht, nahm er sich auch viel Zeit für seine Fans. Auf der Rathaus-Treppe bildeten sie ein Fan-Schlange, mit Glanzfotos, LPs, Setlisten, ja sogar mit Gipsarmen. Eine sehr alte Dame ließ sich mit Großbuchstaben ein Autogramm in ein sehr kleines Notizbuch schreiben, ein junger Mann mit Krücken tauschte diese gegen die Jacke von Bradley ein und ließ sich zusammen mit ihm fotografieren. Danach konnte er wieder gehen. Bradley blieb freundlich, lachte, drückte seine Fans an sich und wunderte sich wohl, dass er außerhalb seiner Heimat so viele Fans hat. Einige davon hatten Tränen in den Augen, andere Memorabilien in den Händen. Aber fast alle dankten ihm händeschüttelnd für das wundervolle Konzert.

Wer es danach noch ins Porgy & Bess schaffte, musste seelisch gefestigt sein. Weil Soulbop, die Formation um Bill Evans, Randy Brecker & Martin, Medeski & Wood mit ihrem instrumentalen Soulfunk die Sache noch einmal richtig aufkochte. Niemand, der nicht schwitzte, sich etwas zu Trinken bestellte und zu sehen musste, wie das Getränk auf mirakulöse Weise auf dem Weg vom Glas in die Kehle verdunstete. Soul, ob mit ohne Funk, gesungen, geschüttelt oder still gerührt, ist offenbar eine ziemlich heiße Sache. Immer noch. Schon wieder.

Innerlich verdörrt, äußerlich eher wie durch einen Eimer Wasser gezogen aussehend, kam ich zuhause an. Ein singender Vollbart, ein Gast aus den ersten Stunden des Festivals, kam aus einer staubigen Ecke hervor wollte mich sofort trockenreiben. Unten im Hof meines Stadtpalastes, dort wo der Zitronenhain gedeiht, erntete Marianne gerade die Zitronen für ihre allseits beliebten Zitronenhühnchen. Eine Band aus Afrika webte einen Perkussionsteppich, mit dem mein Lieblingsweiser Ben-Tzi Droan demnächst nach Lampukistan fliegen soll, um dort Geheimrat der Inneren Exilregierung von Louis I. zu werden. „Ye, I got healed“, singt er andauernd. Ja, das ist die Macht des Soul und Blues. „Blues Is A Healer“.

“Das hat John Lee Hooker gesagt”, sagt naseweis mein Uralt-Kraushaarkumpel, den alle im Haus nur “His Bobness” nennen. Sein Fall wäre fast einer für die Statistik: auf keinem Jazz Fest Wien dürften so viele Songs von Bob Dylan gesungen worden sein wie auf diesem. Überhaupt dürfte er der meistgesungene Komponist und Poet dieses Festivaljahrgangs gewesen sein.
„Ich möchte auch ein Bob Dylan werden!“, ruft das neugeborene Klavierchen, das vor einigen Tage der Stirn von Ben-Tzi Droan entsprang. Mittlerweile kann es sprechen, ich verstehe es besser denn je.

„Gestern wolltest du noch ein Chucho werden. Und morgen? Was willst du morgen werden? Morgen möchtest du mit Jerry Lee Lewis nach Memphis ziehen, weil der dort mit Klavieren ganz schlimme Sachen anstellt, oder? Gut, dass du keine Gitarre bist, dann würde ich ganz andere Saiten bei dir aufziehen!“
„Aber Papamama“, so nennt er mich, weil der Elternstatus zwischen Dr. John, Ben-Tzi Droan noch nicht ganz geklärt ist, „denk doch nicht immer das Schlimmste! Girls just want to have fun!”
“Wer hat dir denn gesagt, dass du ein ‘Girl’ bist?”
„Wenn ich ein ‚Boy’ wäre, hätte ich sowieso andauernd Spaß. Von dem habe ich bislang noch wenig verspürt. Also muss ich ein ‚Girl’ sein! Dieses Land ist eben nicht die Heimat ‚größer Töchter’. Dieses Land ist zu klein für mich!“
„Du kennst doch noch einmal den Unterschied zwischen Brahms und Boogie und willst schon hinaus in die weite Welt? Dir fehlt noch etwas Seelenbildung!“
„Und wo soll ich die, bitte schön, her bekommen? Allein durch das Hören von Otis Redding, Solomon Burke und Ray Charles? Die sind alle schon tot!“
„Aber andere Soul-Lehrer leben noch. Charles Bradley war hier. Bettye LaVette auch, die leben. Und am Freitag, dem 15. Juli kann Cyndi Lauper dir sogar den Blues singen, mitsamt der Worte ‚Girls just want to have fun’.“
„Da muss ich hin. Darf ich?“
„Eigentlich nicht, dafür bist du noch zu klein!“
„Och, bitte
„Hm.“
„Bitte, bitte! Plink, Plink!“
„Nun gut. Immer, wenn du ‚Plink, plink“ machst, kann ich nicht widerstehen.
„Danke, du bist der beste Papamama der Welt!“

Ich lehne mich zufrieden zurück. Wieder einmal mit List einem pubertätskranken Klavierchen den Weg in die nähere Zukunft gewiesen! Jetzt macht mir eigentlich nur noch der Typ in der Ecke Sorgen. Er sieht aus wie Jerry Lee Lewis und hat einen Kanister voller Benzin im Arm. Was soll das denn werden?
(Harald Justin)