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Marianne Faithfull

Hähnchen mit Zitrone

Marianne Faithfull gehört zu den großen Songtragödinnen des 20. Jahrhunderts. Ihr Gesang und ihr Leben verbindet sie mit Frauen wie Edith Piaf, Billie Holiday, Nina Simone und Abbey Lincoln.

Die britische Pop-Ikone mit österreichischem Familienhintergrund und Wohnsitzen in Dublin und Paris wird das 21. Jazz Fest Wien 2011 eröffnen. Im Rahmen eines Charity-Events für die United Nations Women’s Guild wird sie am Eröffnungskonzert am 15. Juni im Austria Center Vienna ihre Stimme für alle in Not geratenen Mütter und Kinder erheben.

Die Hähnchen-Philosophie
Bei allem Glamour, der sie in den sechziger Jahren umgeben hat, und bei ihrem aktuellem Status als arrivierte Künstlerin, hat Marianne Faithfull auch genug Elend miterlebt, um glaubhaft das Versagen der Menschlichkeit im 21. Jahrhundert beklagen zu können. 1946 in der Nähe von London geboren, gehört sie noch zu der Generation Briten, die unter den Folgen des Krieges litten. Sie ist eine Überlebende, hat Selbstmordversuche, eine Fehlgeburt, Heroinabhängigkeit, Krebs und Depressionen überstanden. Marianne Faithfull weiß, wovon sie singt und warum sie ein Charity-Konzert für die United Nations Women’s Guild gibt.

Marianne Faithfull

Ihre 1994 erschienene Autobiografie setzte einen Schlusspunkt hinter ihr persönliches Leid und musste als Überlebenssignal verstanden werden. Seit ihrem Comeback-Album Broken English (1979) und späteren Erfolgsalben wie A Child’s Adventure (1983) Strange Weather (1987), Blazing Away (1990) hatte sie ihren Status als Künstlerin gefestigt. Viel wichtiger noch: sie konnte mittlerweile ihr unwahrscheinliches Überleben als Lebenskunst zelebrieren.

Zu der gehört, neben ihrem von Freuden bezeugten anarchischen Witz, dass sie am Ende ihrer Lebenserzählung fragt: “Habe ich etwas vergessen?“ Die Antwort gibt sie sich gleich selbst: „Ich fand immer, man soll seine Lebensgeschichte mit einem praktischen Rat abschließen. Etwas, das die lange, harterkämpfte Erfahrung auf den Punkt bringt. Wie man einen Koffer packt, wie man einen Cracker mit Butter bestreicht, ohne das er zerbricht, etwa in der Art.“ Und womit bringt die Brit-Diva wohl ihr Leben, ihre harterkämpfte Erfahrung, auf den Punkt? „Mal sehen … Wie wär’s mit einem Hähnchen mit Zitrone und Knoblauch?“

Essbare Überlebenskunst ist immer gut, auch wenn es Hähnchen und Hühnern eher nicht passen wird. „Okay, los geht’s: Hähnchen, Butter, Knoblauch, frischer Estragon – frisch muss er sein -, mit der Schere zerschnitten. Das Hähnchen innen und außen großzügig salzen und pfeffern. Eine halbe Zitrone mit einem Stück Butter und dem frischen Estragon in das Hähnchen stecken. Außen mit dem Knoblauch, dem Zitronensaft und der Butter bestreichen. Ständig begießen. Und bei Kartoffelpüree ist das wichtigste, die Prise Muskat nicht zu vergessen.“ Lecker? Auf alle Fälle britisch-puristisch.

Kindergartenfragen
Ein Rezept, ein recht praktisch gehaltener, kulinarischer Rat, der ihre Lebenserfahrung auf den Punkt bringt. Schade nur, dass die wenigsten Journalisten ihn lasen, verstanden oder gar nachkochen wollten.
Denn anders ist es kaum zu verstehen, dass diese Künstlerin, deren Lebenserfahrung durch den Bauch geht, in Interviews seit Jahren immer wieder mit den gleichen dummen Fragen belästigt wird. Selten nur wird über die Musik auf ihren ausgezeichneten Alben wie 20th Century Blues: An Evening In The Weimar Republic (1996) oder The Seven Deadly Sins (1998), Vagabond Ways (1999), Before The Poison (2004) oder Easy Come Easy Go (2008).mit ihr geredet. Selten unterhalten sich Kritiker mit ihr über ihr Verhältnis zu Brecht und Weill, deren Lieder sie wie keine andere heute zu singen versteht. Liegt es an ihr oder an den Journalisten?

Nein, es macht keinen Spaß mehr, Interviews mit ihr zu lesen, wo sie durch dreiste Fragen genötigt wird, zum x-ten Mal über Liebschaften zu reden, die schon mehrere Jahrzehnte her sind. Mal für Mal wird an die Sixties erinnert. Die Faithfull als „Engel mit Titten“ (Andrew Loog Oldham), als Freundin von Mick Jagger und Keith Richards, als Sex-Symbol mit Pelz und Mars-Riegel. Lang, lang ist es her, das Hähnchen sollte längst gegessen sein, nur die Fragen der Journalisten bleiben sich gleich. Kein Wunder, dass ihr die Lust auf Interviews vergangen ist. Einigen Reporter sagte sie es mittlerweile ganz deutlich: „Ich hasse Interviews. Immer dieses Wühlen in der Vergangenheit.“ Recht hat sie. Oder möchten Sie andauernd nach ihren Untaten im Kindergarten befragt werden?

Keine Zukunft für Weicheier
Zumindest für Marianne Faithfull ist die Gegenwart viel spannender als Geschichten, die ein knappes halbes Jahrhundert alt sind. In der Gegenwart präsentiert sie ihr aktuelles Album Horses And High Heels. Selbst die Zukunft hat einiges zu bieten. Auf die Frage, ob sie Angst vor dem Älterwerden habe, antwortete sie vor einigen Jahren: „Überhaupt nicht. Vergessen wir nie diese wunderbare Geschichte von Betty Davis. Ein junger Mann ein Reporter, besuchte sie zu Hause und fragte: ‚Miss Davis, wie fühlt man sich, wenn man älter wird? Und Betty Davis stand da, in der einen Hand ihren Whiskey, in der anderen Hand ihre Zigarette. Sie sah den Reporter an, nahm einen Schluck, zog lange an der Zigarette, ließ den Rauch aus ihrem Mund strömen und sagte langsam, mit einem abschätzigen Blick auf den Reporter: ’Das ist nichts für Weicheier!’ Und damit“, so die Brit-Ikone mit der rauchigen Stimme, „liegt sie genau richtig.“ Mit anderen Worten: „Nein“ zu Chicken-Wings und Weicheiern, „Ja“ zu Hähnchen mit Zitrone und Muskat, Whiskey und, hust-hust, Zigaretten.
(Harald Justin)

Live Jazz Fest Wien: Marianne Faithfull | Matt Dusk 15. Juni 2011, Austria Center Vienna
Hot stuff CD / Marianne Faithfull – Horses And High Heels