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Seal

Festival der großartigen Stimmen

Das diesjährige Jazz Fest Wien ist auch eines der großen Vokalkunst! Was gibt es Schöneres als singende Stars, deren Stimmbänder golden glänzen, deren Augen aber zudem das Elend dieser Welt sehen?

Die menschliche Stimme ist immer noch das vielfältigste und bewunderungswürdigste „Instrument“, um dem Menschen sich selbst näher zubringen. Kein Klavier, kein Saxofon, keine Gitarre und keine Maultrommel kann so, wie die menschliche Stimme, dem Menschen Auskunft über sich selber geben.

Dass der Jazz Fest Gast Thomas Quasthoff nun wegen einer Kehlkopfentzündung sein Konzert am 6. Juli auf nächstes Jahr (1. Juli 2012) verschieben musste – die Karten behalten ihre Gültigkeit – macht betroffen, verhindert aber nicht, dass wir dem Künstler, der seine Stimmkraft zwischen Jazz- und Opergesang zu erproben beliebt, ein beschwingtes „Don’t Worry, Be Happy“ seines Duettpartners Bobby McFerrin zurufen. Der Vokalakrobat McFerrin ist heuer zwar kein Mitglied im Staraufgebot des Jazz Fest Wien, aber dass er ein besonderer Meister der Gesangeskunst ist, haben alle, die ihn bei seinen vergangenen Jazz Fest Auftritten erlebt haben, wohl noch in bester Erinnerung.

Seal (c: Warner Music)
Foto: Warner Music

Mit dem Auftritt des afroamerikanischen Soulsängers Seal in der Wiener Staatsoper wird nun quasi offiziell jene Programmschiene eröffnet, die den Beitrag des afroamerikanischen Gesangs für die Entwicklung von Blues, Jazz, Soul, Pop und Rock würdigt.
Wer sich heute einmal der Mühe unterzieht, sich die Tageshits der dreißiger oder fünfziger oder gar frühen sechziger Jahre anzuhören und sie mit heutigen Hits vergleicht, wird leicht zu einen auffallenden Befund kommen: da gibt es heute selbst in den seichtesten Schlager- und Pophits, gerade auch in den von Dieter Bohlen produzierten Superstarhits, haufenweise Kiekser, Falsettlagen und Phrasierungen, die es so vor wenigen Jahrzehnten in der „weißen“ Musik nicht gab. Selbst der mickrigste weißhäutige Möchtegern-Superstar aus dem hintersten Provinzkuhdorf versucht heute zu singen wie … ja, wie wer eigentlich?

Es ist ja kein Geheimnis, dass diese Entwicklung in den frühen sechziger Jahren Gestalt annahm. Vokalvorbilder für Rolling Stone Mick Jagger waren u.a. Solomon Burke und Muddy Waters, Joe Cocker, Eric Burdon oder Rod Stewart waren Fans von Ray Charles und Sam Cooke, und wer heute Beyoncé nachträllert, ehrt mit ihrem Soulgesang immer noch Aretha Franklin, die ihrerseits tief in den Traditionen von Gospel und Blues steht. Das kann man hören, im Gesang, der ganz anders ist als das Belcanto, das in früheren Jahrzehnten tonangebend war. Das kann man hören, im Gesang, der Stimmen Raum gibt, die ausbrechen aus dem Kanon des für schön gehalten Gesangs alter Schule. Der Bariton- oder Tenor, der mit stählener Stimme seiner Liebsten huldigt, ist längst einem Heer von Nicht-Singern gewichen. Allerdings, die Besten der vermeintlichen Nicht-Sänger verstehen ihr Handwerk schon. Nur unterwirft es sich nicht den Regeln und Tugenden der alten Gesangskunst, sondern folgt anderen Werten. Was wären schließlich ein Bob Dylan, ein Tom Waits und viele andere, die ihren Vokalspuren folgen, ohne Louis Armstrong, ohne Leadbelly, ohne Woody Guthrie, ohne all die vielen SängerInnen aus Blues und Folk?

Gerade der Gesang von Seal ist ein schönes Beispiel für die wunderbare Afroamerikanisierung des Gesangs in der westlichen Pop-Kultur. Wenn uns die Stimmen von Reay Charles, Sam Cooke, Jackie Wilson oder Wilson Pickett gelehrt haben, dass eine gewisse Rauheit, ein Kratzen, verbunden mit eine Spur maskuliner Lässigkeit und Eleganz, eine recht stimmungsvolle erotische Atmosphäre zaubern kann, dann hat Seal aus diesem Erfahrungsschatz schöpfen können.
Er setzt ein, was ihn die großen Meister schwarzer Vokalkunst gelehrt haben. Ohne sie wäre er nur der Mann an der Seite der Modell-Castingshow-Geschäftsfrau Heidi Klum, mit ihnen ist er eine der originellen Stimmen des Soul.

Dass Seal sich während des Wahlkampfes für Barack Obama und für den Wechsel in der amerikanischen Innen- und Außenpolitik einsetzte, ist kein Zufall. Die afroamerikanische Erfahrung von alltäglichem Rassismus und sozialem Elend hat auch ihm den Blick geschärft und die Stimmbänder geschliffen. Sozialkritik ist ihm, wie so vielen Soulisten, niemals ein Fremdwort gewesen.

So erstaunt es nicht sonderlich, dass auf dem Jazz Fest Wien, Musiker ihre Stimmen erheben, die in bester afroamerikanischer Tradition singen: Vom samtig-kratzigen Seal hin zum unnachahmlich krächzenden Dr. John, der unvergleichlichen Betty LaVette, dem tiefgründenden Gruppengesang der Blind Boys, den zornigen Great Voices Of Harlem und dem zupackendend singenden Charles Bradley, sie alle üben sich nicht im interesselosen Wohlklang. Die Not, der Zorn und der Behauptungswille der Armen und Entrechteten klingt allemal bei ihnen mit, in den Texten, aber eben auch im Timbre, in der Phrasierung, der Intonation. Wer afroamerikanisch singt, kommt, ob er will oder nicht, nicht an den Erfahrungen derer vorbei, die diese Kunst des Gesangs erschufen.

Weshalb es durchaus ernst und nicht nur als geschickte Marketing-Maßnahme für den Kauf seiner CD gemeint war, dass Seal während des Wahlkampfes für Obama Sam Cooks Soulklassiker „A Change Is Gonna Come“ aus den frühen Sechzigern anstimmte. Wer „Es muss sich etwas ändern!“ singt, wird auf die Maultrommel zur Überbringung seiner Botschaft verzichten können.
(Harald Justin)

Live Jazz Fest Wien: Seal 2. Juli 2011, Wiener Staatsoper

Hot stuff CD / Charles Bradley – No Time For Dreaming